Darqawi Dhikr Retreat 2020 - Eine Kostprobe des Himmels!
Bismillahi Rahmani Rahim.
Nach einer längeren Zeit der sozialen Entbehrung lud die Darqawi – Shadiliya Tariqa Schweiz vom 04. bis 06. September zu einem Wochenende des Zusammenseins mit Dhikr (Gottesgedenken) im schweizerischen Toggenburg. Gäste aus Fern und Nah, aus engerem und weiterem Kreis, Jung und Alt, reisten an und genossen beste Gesellschaft vor einer spätsommerlich - sonnigen Schweizer Bergkulisse.
Es fehlte an nichts: kulinarische Köstlichkeiten, geselliges Beisammensein, ein Ausflug in die nahen Berge bei bestem Wetter und abends die gemeinsame Anrufung Allahs und Gesänge des Lobpreis’ aus dem Diwan von Schaykh Muhammad Ibn Al Habib, Allah möge mit ihm zufrieden sein. Alles das hatte die «Nachwuchstruppe», nun auch schon junge Eltern in ihren 30ern oder 40ern organisiert.
Schaykh Abdalhaqq Bewley, Gelehrter aus Bradford, der wie andere Gäste aus England die Quarantäne nach seiner Rückkehr auf sich nahm, um der Versammlung beizuwohnen und die Dhikr zu leiten, rundete die Abende mit seinen aufrührenden Lektionen (Durus) ab. In seiner Begrüssung am ersten Abend erwähnte er unter anderem, dass Tasawwuf, Sufismus, entgegen einer oberflächlichen Sichtweise, keineswegs eine Droge wie Morphium sei, sondern im Gegenteil ein Weg, der einem vieles, ja, alles abverlange. Am zweiten Abend, in seiner Hauptansprache, nahm er sich noch einmal die Durus von Schaykh Muhammad Ibn al Habib vor, die er bereits im letzten Ramadan aufgearbeitet hatte und die dieser Schaykh unserer Tariqa in seinem letzten Ramadan, vor ziemlich genau 50 Jahren, übermittelt hatte.
Er sprach darüber, wie vehement der Schaykh aus Meknes einem akademischen – distanzierten Zugang zum Heiligen Qurân den Riegel vorgeschoben hatte und wie unermüdlich er den Heiligen Qurân als etwas Lebensnahes, Reales und angesichts der Wirklichkeit des Todes, der Zeit im Grab und des jüngsten Tages, zutiefst Relevantes verstanden haben wollte. Die lebendige Gegenwart Allahs stand für ihn immer zuvorderst und er wiederholte sich bewusst ständig, um dieser zentralen Angelegenheit Gewicht und Tiefe zu verleihen, sie auch als Licht in die Herzen zu pflanzen und zum Antrieb unserer Handlungen werden zu lassen. Shaykh Muhammad Ibn al Habib wurde nicht müde, über den Tauhid (Ausrichtung auf Allah, den Einen, Ewigen) und über die Gefahr des offenen sowie versteckten Shirk (Beigesellung) zu sprechen. Alles ist in direkter Weise, ungeachtet des Effekts von Ursache und Wirkung, Handlung Allahs. Die wissenschaftliche Herangehensweise an das Verständnis unserer Existenz, im Sinne von Descartes’ rationalistischen Prinzipien und Newtons Axiomen der aufeinander gegensätzlich wirkenden Kräfte als relevantes Welterklärungsmodell, sind mit reinem Tauhid, mit dem islamischen Verständnis von Allah als unmittelbarer Ursache jeder Existenz, unvereinbar. Das war seine unermüdliche Botschaft. «Offener Shirk», also Götzendienst, ist als solcher klar erkennbar, wogegen der «versteckte Shirk», der im Glauben ans Ursache – Wirkungsprinzip gefangen bleibt, ist gemäss einem Hadith - einer Überlieferung unseres Propheten, Friede sei mit ihm - verborgener ist «als die Spur einer Ameise in einer dunklen Nacht auf einem harten Stein». Die eigentliche Wirklichkeit, dass nämlich Allah alleine Urheber aller Ursachen sowie Wirkungen, aller Dinge und Handlungen, jedes Schadens und Nutzens, der uns trifft, ist, gerät nur allzu leicht in Vergessenheit. Schaykh Muhammad Ibn al Habib hat sein Leben damit verbracht, dieses Wissen tief in den Herzen der Menschen zu verankern, auf dass eine Art des Menschseins entwickelt würde, die aus diesem gereinigten Bewusstsein heraus die Welt verändern könne – bi Ithni Llahi, mit Allahs Erlaubnis!
Nicht zu vergessen: die Morgen – Dhikr. Um halb fünf traf man sich in der zum Gebetsraum umfunktionierten Stube, um bis kurz vor sechs Allahs zu gedenken und das Morgengebet zu verrichten, wie immer begleitet von wunderbaren Gebetsrufen und bewegender Qur’an – Rezitation. Nicht zu vergessen auch die exzellenten Übersetzungen aus dem Englischen: Dank an Chaled B. und Hiba Z.
Am Sonntagmittag, kurz vor unserer Abreise aus Wildhaus, bot Professor Yasin Dutton einen anderen Blickwinkel auf die Gefahr der Entfremdung vom Kern der Glaubenslehre. Mit einer Lektion über die herausragende Bedeutung einer handlungsorientierten Auffassung unseres Diin («Religion») appellierte er an uns, dem Beispiel unseres Propheten in Handlung wie Verhalten zu folgen.
Gestützt auf die Muwatta von Imam Malik sowie auf einen Hadith, eine Überlieferung, von Ibn Mas’ud, einem Gefährten des Propheten Muhammad, belegte er, dass wir, vergleichsweise in einer Zeit der vielen Worte, der vielen «Buchstaben» und der wenigen Allah wohlgefälligen Taten leben. Der vielen Wünsche bei gleichzeitig ungenügend gelebtenTaten und mangelnder Grosszügigkeit. Ibn Mas’ud, ein Gefährte des Propheten Muhammad, Friede sei auf ihm, hatte schon vor über 1400 Jahren gewusst, dass er und seine damaligen Gefährten in einer privilegierten Zeit lebten: sie seien «Viele, die (das Essentielle) verstehen, die aber wenig (den Qur’an) rezitieren». Zu jener Zeit waren die Grenzen des Benehmens, wie es im Qur’an definiert wird, über das allgegenwärtige, lebendige Wissen gesichert und geschützt, während heute oft nur noch der «Buchstabe» davon übrig ist. Es gab damals wenige Bittsteller und viele grosszügig Gebende, beherzt Handelnde. Die Gebete waren lang und die Chutbas (Predigten) kurz. Ibn Mas’ud wusste aber damals schon, dass eine Zeit über die Menschen kommen wird, in der die Verhältnisse sich ins Gegenteil verkehren werden: Viele Qur’an – Rezitatoren gegenüber wenigen Verständigen. Ausufernde Chutbas gegenüber kurzen Gebeten. Eine Kultivierung der «Huruf», also des Geschriebenen, bei gleichzeitiger Vernachlässigung der «Hudud» - der gelebten Richtlinien. Viele Bittsteller und wenige Gebende und viele Wünsche, die den (gottgefälligen) Handlungen vorangestellt werden. Eine Zeit der leeren Worte also, der Vernachlässigung des gelebten Wissens und der Ichbezogenheit. Auch was sich heute «islamische Studien» nennt, dreht sich um Buchstaben, um geschriebene Worte. In den Moscheen wird bis zum Überdruss gepredigt - der Fokus liegt dabei auf Details, der grosse Zusammenhang tritt bis zur Unkenntlichkeit in den Hintergrund.
Wollen wir eine Grundcharakteristik des Propheten, war das Grosszügigkeit, er hasste Geiz. Man stelle sich jedoch vor, ein Lehrer eines Islamlehrgangs fragte seine Schüler, ob sie an diesem Tag schon etwas gegeben hätten, etwas für jemanden getan hätten, ein gutes Wort, eine andere Sadaqa. Darum geht es im Grunde aber. Wie wir sind, so wird unser Leben, so wird unser Diin, unsere Art der Transaktion, sein.
Während der ganzen Zeit unseres Aufenthalts spielten Kinder aller Altersklassen fröhlich, meist friedlich miteinander und genossen die Freiheit unter sich auch, um kleine Streiche zu spielen. Manche der OrganisatorInnen und der Gäste waren einen guten Teil der Zeit in der geräumigen Gastronomieküche mit wuchtigen Töpfen und Pfannen und einer Unmenge von Geschirr, andere mit logistischen Aufgaben beschäftigt. Sie zauberten wunderbares Essen hervor und sorgten für einen reibungslosen Ablauf.
Manch eine nutzte den Aufenthalt auch für ausgedehntere Wanderungen in der wunderbaren Natur. Viel Zeit blieb auch für regen Austausch untereinander, die Gespräche kreisten um verschiedenste Themen unseres Alltags, auch um Strukturen und Feinheiten unseres Diin – unseres gelebten Glaubens. Viele junge Menschen waren angereist, die so Gelegenheit bekamen, Ansätze und Schwierigkeiten des Umsetzens eines lebendigen Islam im Alltag, in einer strukturell und bürokratisch stark vorgeprägten Welt, zu besprechen. Der lebhafte Austausch von Jung und Alt, die Gesänge des Diwans in den Zusammenkünften des Dhikr, die gemeinsamen Gebete, die zwischenmenschlichen, kulinarischen, landschaftlichen und spirituellen Highlights, die wir in Wildhaus erleben durften, bezeichnete jemand als «Eine Kostprobe des Himmels».